Adam und Wilhelmine Kaltwasser
Wilhelmine Kaltwasser geb. Heid wurde am 9. Juni 1890 in Gimbsheim bei Worms (heute Kreis Alzey-Worms) geboren, wo sie auch aufwuchs. Am 31. Januar 1914 heiratete sie dort Adam Kaltwasser.1
Adam Kaltwasser wurde am 22. Februar 1891 in Auerbach geboren. Von 1897 bis 1905 besuchte er dort die Volksschule, erlernte anschließend das Küferhandwerk und legte am 10. Mai 1908 die Gesellenprüfung in Bensheim ab.2 Bis zum Beginn seiner Militärzeit im Jahre 1911 arbeitete er bei verschiedenen Firmen als Küfer; im Oktober 1913 kam er dann zur Straßenbahn3 nach Frankfurt.4
Wilhelmine erinnert sich, wie ihr Interesse an der Bibel wuchs: „Als mein Ehemann im Kriege war, habe ich tagtäglich zu Gott gebetet, er möge doch meinem Ehemann so einen Schuss geben, dass er heimkommen könne und nicht mehr rausmüsse. Dies ist auch tatsächlich eingetreten. Seit jener Zeit lese ich die Bibel, die ich mir damals kaufte.“5 Beide kamen etwa 1921 mit den Bibelforschern (heute Jehovas Zeugen) in Kontakt und konvertierten 1924 (Taufe im Offenbacher Schwimmbad).6 Ihre beiden Töchter Wilhelmine jun. (genannt Minna) und Dorothea (Rufname Doris oder Dora) machten die Eltern „von klein auf mit der Bibel vertraut“.7 Als sie etwas älter waren, ging die jüngere Doris zur Kinder-, Minna zur Jugendunterweisung. Doris erzählt: „Wir hatten eine kindergerechte eigene Zeitschrift und waren bestrebt, das Gelernte auch anzuwenden.“ Die Eltern nahmen die beiden Mädchen auch mit auf ihre Missionsfahrten: „Ich war kaum in der Schule, durften wir schon mit über Land – mit einem Lastwagen, auf beiden Seiten einfache Holzbänke –, Zeitschriften und Traktate anzubieten. Wir waren mit Freude und Feuereifer dabei, es war eine herrliche Zeit.“8
Mit Hitlers Machtübernahme 1933 begannen die Probleme. Die beiden Töchter weigerten sich, dem BDM (Bund Deutscher Mädel) beizutreten. Doris durfte nicht weiter zur Schule gehen, wie sie es sich gewünscht hätte, sondern musste als Haushaltshilfe in „Haushalte zu 100%igen Nationalsozialisten“.9
Zunächst bemühte sich Adam Kaltwasser, eine offene Konfrontation zu vermeiden. Über die erste Wahl (1933) berichtete er: „Im ersten Jahr [der Hitlerregierung] habe ich einmal an einer Wahlhandlung teilgenommen. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich damals … einen weissen [d. h. ungültigen] Zettel abgegeben [habe]. Dies tat ich, um nicht meine Stellung zu verlieren.“10 1934 wurde einen Tag vor der Wahl eine Hausdurchsuchung bei der Familie Kaltwasser durchgeführt. Man beschlagnahmte alle Bücher, die er noch aus der Zeit vor dem Verbot besaß. Das motivierte ihn, sich an der Wahl am Folgetag nicht zu beteiligen.11 Besonders hart traf es die Familie, als Adam Kaltwasser daraufhin tatsächlich seine Arbeit verlor: Er habe sich geweigert, sich an der Wahl am 18.08.1934 zu beteiligen, und damit „ein Verhalten an den Tag gelegt […], das ganz eindeutig ihre Abneigung gegenüber dem nationalsozialistischen Staate erkennen lässt“.12 Außerdem warf man ihm vor, den Hitler-Gruß nicht geleistet zu haben. Jemanden mit dieser Einstellung wolle man nicht weiter im Öffentlichen Dienst beschäftigen. Zum 31. März 1935 verlor Adam Kaltwasser also seine Anstellung bei der Straßenbahn der Stadt Frankfurt. Infolgedessen verlor die Familie auch die Dienstwohnung in der Dillenburger Straße und war gezwungen, nach Ginnheim in eine umgebaute Scheune in der Ginnheimer Landstraße 198 zu ziehen, wo es kalt und feucht war.13 Dort erinnern nun zwei Stolpersteine an Wilhelmine und Adam Kaltwasser.
Bis 1933 hatte die Familie Kaltwasser regelmäßig die Zusammenkünfte der Gemeinde in Frankfurt besucht und sich an der öffentlichen Missionstätigkeit beteiligt. Ab 1933 trafen sich die Zeugen Jehovas nur noch in kleinen Gruppen, so auch die Familie Kaltwasser: Etwa sechs Personen (Familie Kaltwasser und drei Frauen) trafen sich in den Privatwohnungen, um gemeinsam über die Bibel und ihren Glauben zu sprechen.14
Schließlich kam es zur Verhaftung. Doris erinnert sich, wie sie diese Zeit erlebt hat: „Da er uns seine Verhaftung zu Hause ersparen wollte, fuhr er zur Großmutter an den Rhein [nach Gimbsheim].“ Dort holte ihn die Gestapo ab. Darauf folgten Hausdurchsuchungen und nur wenig später auch die Verhaftung der Mutter. Beide Eltern kamen ins Gefängnis nach Preungesheim. Minna war durch ihren Arbeitgeber geschützt: Sie arbeitete in einer Metzgerei und die Besitzer nahmen sie bei sich auf, um sie vor der Verfolgung zu schützen.
Das „wesentliche Ergebnis der Ermittlungen“ ließ keinen Zweifel darüber, was Adam Kaltwasser zu erwarten hatte: „Er ist auch nach dem Verbot der IBV [Internationale Bibelforscher Vereinigung] weiter für diese aktiv tätig gewesen. […] Der Angeschuldigte hat im Dezember 1936 und im Februar 1937 60 Exemplare des Flugblattes ‚Resolution‘15 […] verteilt, indem er die Flugblätter in Briefumschlägen in Briefkästen steckte.“16 „Bei dem Bibelforscher Adam Kaltwasser […] handelt es sich um einen nahezu unbeschreiblich fanatischen Anhänger und Verfechter für die Irrlehre der IBV. […] Die Vernehmung des K. vom 11. März 1937 ist ohne Zweifel nur ein Bruchteil von dem, was er tatsächlich getan. […] Kaltwasser hat nicht nur illegale Schriften erhalten, sondern eine illegale Gruppe geführt und sich in den Monaten Dezember 1936 und Februar 1937 an der Verteilung der ‚Resolution‘ beteiligt. […] Eine exemplarische Bestrafung des Kaltwasser ist dringend erforderlich. Nach Verbüssung der Strafhaft dürfte bei Kaltwasser eine Unterbringung in ein Schulungslager angebracht sein.“17
Zunächst verweigerte Wilhelmine Kaltwasser die Aussage. Deshalb enthält das Vernehmungsprotokoll den Zusatz: „Bei der Ehefrau Kaltwasser handelt es sich um eine äusserst verstockte und verlogene Anhängerin der illegalen IBV. […] Von einer weiteren Befragung wurde abgesehen […] Eine harte Bestrafung ist unumgänglich.“18 In einem späteren Verhör – als sie bereits wusste, was der Gestapo über die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Frankfurt schon bekannt war – erklärte sie, dass sie „keine Geschwister [d. h. andere Zeugen Jehovas] habe verraten wollen“.19
Am 27. Mai 1937 kam es vor dem Sondergericht Frankfurt zum Prozess.20 Beide wurden zu Haftstrafen verurteilt: Wilhelmine zu 2 Monaten Gefängnis (die durch die Untersuchungshaft verbüßt waren; sie wurde freigelassen, musste sich aber wöchentlich bei der Polizei melden), Adam zu 1 Jahr und 3 Monaten (2 Monate waren durch die Untersuchungshaft verbüßt). Er kam in das Strafgefängnis Frankfurt-Preungesheim.
Wilhelmine Kaltwasser erhielt zwar für den 10. November 1937 die Genehmigung, gemeinsam mit ihrer Tochter den Familienvater in Preungesheim zu besuchen (unter Aufsicht eines Gefängnisbeamten).21 Aber zwischen Antragstellung und Besuchstermin wurde Adam Kaltwasser am 22. Oktober 1937 in das Moorlager Walchum/Ems gebracht. Lange bekam die Familie keine Nachricht von dort. Schließlich fragte Doris im Auftrag der Mutter in Walchum an, ob es „dem Gef. Adam Kaltwasser Nr. 1135 […] noch gut geht und ob er noch gesund ist. Wir haben seit nahezu sieben Monaten nichts mehr von ihm gehört und sind in größter Unruhe.“22 Die Antwort: „Zurückgesandt mit dem Bemerken, dass sich der Strafgefangene Kaltwasser noch im hiesigen Lager befindet und gesund ist. Zu irgendwelchen Besorgnissen besteht kein Anlass.“23
Am 27. Juni 1938 lief die vom Sondergericht Frankfurt verhängte Strafe aus. Doch nach seiner Entlassung aus Walchum wurde Adam Kaltwasser „der hiesigen [d. h. Papenburger] Polizei zur Verfügung gestellt“.24 Nach einem Monat im Gerichtsgefängnis Frankfurt wurde „K. […] am 27.6.38 nach Strafverbüssung in Schutzhaft genommen und am 3.8.38 in das KZ-Lager Dachau überführt.“25 Über seine Haft in Dachau ist nicht viel bekannt: Häftlingsnummer 18362; Block 15; neben zwei Haftbriefen sind Einlieferungsscheine über Geldsendungen seiner Familie erhalten.26 Nach etwas mehr als einem Jahr, am 27. September 1939, wurde Adam Kaltwasser ins KZ Mauthausen verschleppt.
Anfang 1940 erhielt Wilhelmine in Frankfurt Besuch von der Gestapo, die sie und Doris zur Haftbiografie des Ehemannes und Vaters befragte. Doris berichtet: „Diese Herren machten uns grosse Hoffnung, dass der Vater bald heim käme. Heute weiss ich, dass sie sich an unserem Leid ergötzten.“27
Etwas später erhielt die Familie einen Brief von Adam Kaltwasser: „Meine herzensgute Frau und Kinder. Mit grosser Freude und Dankbarkeit habe ich eure beiden Briefe vom 22.2. und 10.3. erhalten und gesehen, dass es Euch noch gut geht. Wenn man hier Geld hat, kann man sich immer etwas kaufen. Habt vielen heißen Dank für alles und seid alle 1000mal gegrüßt und geküsst von eurem lieben guten Mann und Vater. Auf Wiedersehen.“28 Umso größer war der Schlag für die Familie, als sie am 19. April 1940 ein Telegramm erhielt: „Ehemann heute im Lager verstorben näheres durch Polizei.“29 Laut Totenschein30 starb Adam Kaltwasser im Alter von nur 49 Jahren am 19. April 1940 um 8.15 Uhr; die Sterbeurkunde31 wies als Todesursache „Gehirnschlag“ aus. Die tatsächliche Todesursache, die damit verschleiert werden sollte, offenbart ein Zeitzeuge und Mitgefangener von Adam Kaltwasser: „Unterernährung (verhungert)“.32
Wilhelmine veranlasste, dass die Urne nicht wie geplant in Österreich, sondern in Frankfurt beigesetzt wurde. Nachdem sie alle bürokratischen Hürden genommen und die Kosten vorab bezahlt hatte, wurde die Beisetzung am 6. Juni 1940 auf dem Frankfurter Hauptfriedhof genehmigt. Für die Familie kamen nun zu Verfolgung, Krieg und Not nicht nur die Trauer um den geliebten Ehemann und Vater hinzu, sondern auch weitere Repressionen: „In der ersten Zeit weigerte man sich, uns irgendwelche Hilfe zukommen zu lassen. Dann gab man uns einen geringen Zuschuss zur Miete. Hunger und Not, Unterdrückung und allerlei Schikanen mussten wir auf uns nehmen. […] Durch die Befreiung der Amerikaner wurden wir aus diesem Zustand erlöst. Und somit konnte ich nun einen Beruf erlernen.“33
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes bemühte sich Wilhelmine Kaltwasser um eine angemessene Wohnung. Das einzige Angebot hätte die Vertreibung anderer Bewohner zur Folge gehabt. Wilhelmine und die Töchter wollten das nicht – und erhielten kein weiteres Angebot. Wilhelmine Kaltwasser war bereits krank aus dem Gefängnis gekommen. Ihre haftbedingten Krankheiten verschlimmerten sich derart, dass sie sich 1965 einer sehr schweren Operation unterziehen musste. Bald darauf wurde sie zum Pflegefall. Die Töchter zogen mit ihr nach Oberhausen-Rheinhausen (Kreis Karlsruhe). Wilhelmine Kaltwasser verstarb am 10. Juli 1976.34
Adam und Wilhelmine Kaltwasser traten entschieden für ihre Überzeugung und ihren Glauben ein. Für Adam Kaltwasser brachte dies den Arbeitsplatzverlust, Verhöre, Gefängnis, KZ-Haft und Tod mit sich, für Wilhelmine Wohnungsverlust, Verhöre, Gefängnis und Haftfolgeschäden. Die Verfolgung riss eine glückliche Familie auseinander – doch sie alle blieben ihrer Überzeugung treu und stellten eine Zivilcourage unter Beweis, die sie bis heute zur Mahnung und zum Vorbild werden lässt.
1 Vgl. Heiratsurkunde (Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa [JZD]).
2 Vgl. Gesellenbrief (ebd.).
3 Vgl. Zeugnis der Direktion der Strassenbahnen und der Omnibusse der Stadt Frankfurt am Main (ebd.).
4 Vgl. Angaben zum Lebenslauf aus: Vernehmungsprotokoll Adam Kaltwasser, 11.03.1937 (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHSta WI], Abt. 461, Nr. 7663).
5 Vernehmungsprotokoll Wilhelmine Kaltwasser, 25.03.1937 (HHSta WI, Abt. 461, Nr. 7660).
6 Vgl. ebd.
7 Bericht von Doris Reinwarth geb. Kaltwasser, 30.01.2001 (JZD).
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Vernehmungsprotokoll A. Kaltwasser (Anm. 4).
11 Vgl. ebd.
12 Kündigungsschreiben, 22.01.1935 (JZD).
13 Vgl. Bericht von Doris Reinwarth geb. Kaltwasser vom 30.01.2001 (JZD).
14 Vgl. Vernehmungsprotokoll A. Kaltwasser (Anm. 4).
15 Jehovas Zeugen verteilten die „Luzerner Resolution“ am 12.12.1936 um 17.00 Uhr zeitgleich im ganzen Reichsgebiet. Mit dieser Protestaktion machten sie die Öffentlichkeit auf die grausame Misshandlung der Zeugen Jehovas und anderer Verfolgtengruppen aufmerksam und forderten das NS-Regime in scharfen Worten auf, diese brutalen Übergriffe einzustellen.
16 „Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen“ (HHSta WI, Abt. 461, Nr. 7663).
17 Schreiben von Kriminalassistent Pracht, 13.03.1937 (HHSta WI, Abt 461, Nr. 7663).
18 Vernehmungsprotokoll W. Kaltwasser (Anm. 5).
19 Spätere Vernehmung von W. Kaltwasser (HHSta WI, Abt. 461, Nr. 7660).
20 Vgl. Vorladung in der Strafsache gegen Adam Kaltwasser et al., 18.05.1937 (JZD).
21 Besuchsschein vom 04.09.1937 für den 10.11.1937 (JZD).
22 Brief von Doris Kaltwasser an das Gefangenenlager Walchum, 20.02.1938 (JZD).
23 Brief des Gefangenenlagers Walchum, 22.02.1938 (ebd.).
24 Entlassungspapiere aus Walchum/Ems in der Strafprozessakte (HHSta WI, Abt. 461, Nr. 7663).
25 Gestapo-Kartei HHSta WI.
26 JZD.
27 Bericht von Doris Reinwarth, 30.01.2001 (JZD).
28 Brief von Adam Kaltwasser aus dem KZ Mauthausen, 17.03.1940 (HHSta WI, Abt. 518, Nr. 416, Bd. 1).
29 Telegramm aus KZ Mauthausen (JZD).
30 Totenschein Adam Kaltwasser, 19.04.1940 (ebd.).
31 Beglaubigte Abschrift der Sterbeurkunde, 15.10.1957 (HHSta WI, Abt. 518, Nr. 417, Bd. 1).
32 Liste der Zeugen Jehovas, die in den Konz.-Lagern Dachau, Mauthausen und Gusen ihre Treue mit dem Tode besiegelten, von Gustav Bräuchle, Ludwigshafen. Gustav Bräuchle war bis zur Befreiung im April 1945 im KZ Mauthausen; er verstarb 1982 (JZD).
33 Antrag von D. Kaltwasser an die Betreuungsstelle, 20.10.1947 (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt/Main, NS-Verfolgte, Sign. 3.145).
34 Vgl. Sterbeurkunde Wilhelmine Kaltwasser (JZD).