Marie Schättle
Marie Schättle geb. Steinbach wurde am 9. November 1883 in Michelbach am Wald geboren (heute Teil der Gemeinde Öhringen, Baden-Württemberg). Von 1889 bis 1897 besuchte sie die Volksschule in Michelbach am Wald. Nach der Schulentlassung arbeitete sie zunächst bis zu ihrem 18. Lebensjahr im elterlichen Haushalt mit, danach fünf Jahre lang als Haushaltshilfe, bis sie 1906 Eugen Schättle heiratete. Er war katholisch, sie evangelisch. Noch im selben Jahr wurde der einzige Sohn geboren.
Die Familie wohnte zunächst in der Königsstraße 74H (heute Gräfstraße, Frankfurt-Bockenheim) im Hinterhaus im Parterre.1 Dort bekam sie im Jahre 1911 einen Besuch, der ihr Leben gravierend beeinflusste. Sie berichtete bei ihrer Vernehmung durch die Gestapo 1937: „Im Frühjahr 1911 kam ich erstmals mit dem Gedankengut der IBV (Internationale Bibelforscher Vereinigung) in Berührung; ein junger Mann brachte mir damals Schriften derselben. Seit jenem Zeitpunkt bin ich auch Bibelforscherin.“2 Marie Schättle war die erste Bibelforscherin in Frankfurt. Allerdings hatte sie keine Gelegenheit, sich durch die Erwachsenentaufe als solche zu bekennen: „Da in Frankfurt/M. sonst keine Bibelforscher ansässig waren, konnte ich vor 1915 nicht getauft werden.“3 Im Jahr ihrer Taufe zog die Familie in die 3. Etage des Hauses Palmengartenstraße 3,4 wo Eugen Schättle als Hausmeister arbeitete. Der Enkel der Eheleute Schättle erinnert sich noch an Erzählungen seines Großvaters, dass er von der Wohnung aus gehört hätte, wenn z. B. der Sänger Enrico Caruso im Palmengarten aufgetreten sei und gesungen habe.5 Nach den Erzählungen der Großeltern erinnert sich der Enkel auch, dass das Haus ziemlich herrschaftlich war.
Um 1931 erwarb Eugen Schättle ein Grundstück in Schwalbach/Taunus. Dort baute er gemeinsam mit seinem Sohn „mitten auf dem Acker“6 das neue Zuhause der Familie, die am 12. September 1936 dort einzog.7
Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers hatten die Nationalsozialisten die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen (damals noch besser als „Bibelforscher“ bekannt) verboten. „Bis zum Verbot der IBV habe ich dann die öffentlichen Versammlungen der IBV besucht.“8 Nach dem Verbot wurde das Gemeindezentrum in Frankfurt geschlossen und verwüstet.
Marie Schättle wurde am 1. März 1937 in ihrer Wohnung verhaftet und noch am selben Tag nach Frankfurt gebracht. Am 11. März überführte man sie ins Strafgefängnis Frankfurt-Preungesheim.9
Ihre Vorführung zur Vernehmung erfolgte bereits am 3. März. Dabei gab sie offen zu, ihren Glauben auch nach dem Verbot weiter ausgeübt zu haben.10 Sie traf sich in kleiner Gruppe mit anderen Zeugen Jehovas zu Bibelbesprechungen;11 dabei wurde gebetet, aus der Bibel und bibelerklärenden Schriften vorgelesen und darüber gesprochen. Lieder wurden nicht gesungen, damit die kleine Gruppe sich nicht verriet. Zu den besprochenen Schriften gehörte u. a. die Zeitschrift Der Wachtturm, der heimlich gedruckt worden war. Auf die Frage, warum sie den „Deutschen Gruß“ verweigerte, antwortete sie:
„Weil ich mich auch hier zur Hl. Schrift stelle, in der es in der Apostelgeschichte heißt: ‚Es ist in keinem anderen Heil, es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, als nur der Name Jesus.‘“12
Marie Schättle gab auch zu, sich an der Verbreitung der „Resolution“ beteiligt zu haben, und zwar an derjenigen im Februar 1937.13 Über die Vorbereitungen erklärte sie: „Am Donnerstag, den 18. Februar 1937 besuchte ich die Glaubensschwester Anna Muth, Emserstraße 16.14 Bei dieser Gelegenheit erklärte die Glaubensschwester Muth, dass ‚die Sachen schon da seien‘. Es war für mich und die Frau [Elisabeth] Schäfer ein Paket gerichtet. Ich nahm dasselbe an mich. In meiner Wohnung habe ich dann das Paket geöffnet. Es waren 105 Briefumschläge mit jeweils einem Exemplar der Resolution. In dem Paket lag eine Liste, auf welcher die Empfänger verzeichnet waren. Auftragsgemäß hatten wir also lediglich diese Adressen auf die Briefumschläge zu schreiben; und die Weisung, nachdem dies geschehen sei, die Liste zu verbrennen. Das Briefporto musste von den Absendern, also in diesem Falle von der Frau Schäfer und mir, getragen werden. Einen Teil der Briefumschläge schrieb ich in meiner Wohnung. Da ich Angst hatte, begab ich mich zu der Glaubensschwester Schäfer. […] Frau Schäfer hat dann alle Briefe, d. h. auch die, welche ich geschrieben hatte, in den Briefkasten […] [in] Rödelheim15 eingeworfen. […] Ich kann daher nicht begreifen, dass die Briefe, die meine Handschrift tragen, in Frankfurt/Main-Mitte abgestempelt sind.“16
Über ihre Verhaftung vermerkte der Gendarmerie-Abteilungsbereich Frankfurt-Höchst am 4. März 1937: „Am 2. ds. Mts. wurde […] Marie Schättle […] in ihrer Wohnung von der Geheimen Staatspolizei aus Frankfurt a/M verhaftet und auch sofort nach Frankfurt a/M. überführt. Die Schättle hatte in letzter Zeit an höhere Amtspersonen, sogar auch an den Herrn Oberbürgermeister Dr. Krebs der Stadt Frankfurt a/M, anonyme Briefe gesandt mit dem Inhalt ‚Illegale Flugblätter der internationalen Bibelforscher‘.“17
Wegen dieser „Vergehen“ stellte man sie am 22. März 1937 unter Anklage vor dem Frankfurter Sondergericht.18 Dabei wurden Passagen aus der „Resolution“ zitiert, die dem Regime besonders missfielen: „Wir rufen alle gutgesinnten Menschen auf, davon Kenntnis zu nehmen, dass ‚Jehovas Zeugen‘ in Deutschland, Österreich und anderswo grausam verfolgt, mit Gefängnis bestraft und auf teuflische Weise misshandelt und manche von ihnen getötet werden.“19 Die Öffentlichkeit war somit bereits Ende 1936/Anfang 1937 auf die Gräueltaten des NS-Regimes hingewiesen worden.
Die Verhandlung gegen Marie Schättle und 10 weitere Zeugen Jehovas am 7. Juni 1937 endete für sie mit der Verurteilung zu 5 Monaten Gefängnis, die sie in Frankfurt-Preungesheim verbüßte. Die Gemeindeverwaltung Sulzbach am Taunus gab die Information über die verhängte Strafe nach Frankfurt-Höchst weiter.20 Am 1. August 1937 wurde Marie Schättle zwar entlassen, aber sofort der Polizei „zur Verfügung“ gestellt, die sie im Polizeigefängnis Frankfurt weiter festhielt.21 Die Gestapo teilte dem Polizeipräsidenten am 29. August 1937 mit, Marie Schättle sei nach einem Erlass des Geheimen Staatspolizeiamtes Berlin vom 24. August 1937 in das Konzentrationslager Moringen zu überführen. „Ich bitte daher, die Schättle mit nächstem Gefangenensammeltransport dem Lager, wie angeordnet, zu überweisen und mir den Zeitpunkt des Abtransportes kurz anzuzeigen. Die Kommandantur des Konzentrationslagers Moringen hat entsprechende Nachricht erhalten. […] Ich bitte die Angehörigen der Schättle von der Überführung in geeigneter Weise in Kenntnis zu setzen.“22 Am 31. August konnte notiert werden: „Der Ehemann Eugen Schättle ist entsprechend benachrichtigt.“ Anfang September 1937 wurde Marie Schättle ins KZ Moringen eingeliefert.
Wegen eines bevorstehenden Haftprüfungstermins richtete die Geheime Staatspolizei am 5. Februar 1938 die Anfrage an den Landrat in Frankfurt-Höchst, „ob und gegebenenfalls welche Bedenken von dort gegen eine Entlassung der Schutzhaftgefangenen Maria Schättle unter Berücksichtigung ihrer häuslichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bestehen. […] Ist zu befürchten, dass im Falle ihrer Entlassung ihre Person oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährdet werden?“ Auch sollte festgestellt werden, ob Angehörige die Kosten der Rückreise aus dem Konzentrationslager tragen könnten. Wenn ja, sollten diese vorsorglich schon zur Einzahlung aufgefordert, gleichzeitig jedoch darauf hingewiesen werden, dass dadurch keine Rückschlüsse oder gar Ansprüche auf eine baldige Entlassung zu ziehen seien.23 Der Bürgermeister von Schwalbach wies in der Folge den Landrat des Main-Taunus-Kreises darauf hin, dass Marie Schättle erst kurz vor ihrer Verhaftung überhaupt nach Schwalbach gezogen sei und dort so weit außerhalb wohne, dass sie mit den Bewohnern nur sehr wenig in Berührung komme. Es sei gemäß dem, was über die Familie bekannt sei, nicht anzunehmen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bestehe. Und tatsächlich war der Ehemann auch bereits aufgefordert worden, die Rückreisekosten an die Geheime Staatspolizei in Frankfurt zu überweisen.24 Wenige Tage nach diesem Schreiben wurde Marie Schättle jedoch „am 21. Februar 1938 gemeinsam mit 149 weiteren Frauen aus dem Schutzhaftlager Moringen in das KZ Lichtenburg verlegt“.25 Auf diesem Transport waren auch die Frankfurter Zeuginnen Jehovas Anna Kanne, Paula Lubowitzky, Elisabeth Mayer, Anna Muth, Anna Oechler, Berta Pater und Elisabeth Schäfer.26 Marie Schättle erhielt die Häftlingsnummer 363, die sie auch behielt, als sie am 15. Mai 1939 ins KZ Ravensbrück verlegt wurde.27 Dort kam sie in Block 8.28 Am 28. April 1945 erlebte sie die Befreiung.29 Die Rote Armee befreite das KZ Ravensbrück allerdings erst am 30. April 1945 – es ist also gut möglich, dass Marie Schättle noch für kurze Zeit auf einen Todesmarsch kam.30 Falls das so war, kehrte sie nochmals nach Ravensbrück zurück, denn auf ihrem Fragebogen zur Verfolgung31 gab sie an, dass sie bis 29. Juli 1945 in Ravensbrück war.
Am 1. August 1945 meldete sie sich in Frankfurt polizeilich aus dem KZ Ravensbrück zurück.32 Durch die lange Haft, verbunden mit Hunger, Kälte, Strafen und Entbehrungen, war sie körperlich schwer geschädigt.33 Sie musste sich in der Strahlenklinik der Universitätsklinik Frankfurt in Behandlung begeben.34 Das Gutachten, das dort erstellt wurde, klingt wie eine Verhöhnung des NS-Opfers: „Die langjährige Haft kommt als Entstehungsursache nicht in Frage, im Gegenteil ist anzunehmen, dass der chronische Hungerzustand das Krankheitsgeschehen günstig beeinflusst hätte.“35 Eine Obergutachterliche Stellungnahme fügt hinzu: „Ein Zusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der Haft besteht nicht. […] Weit eher ist bei der Art der Erkrankung die umgekehrte Tatsache anzunehmen, dass Hunger und Entbehrungen der Haftzeit den Beginn des Leidens hinausgeschoben haben.“36
Ihr Enkel erinnert sich noch gut daran, wie Marie Schättle nach der Befreiung lebte und ihren Glauben praktizierte:37 Sie sei eine ruhige Frau gewesen, aber kein „Muttchen“, das nur zu Hause gesessen hätte – ein- bis 2-mal wöchentlich habe sie ihre Gottesdienste in Frankfurt besucht und sei auch unter ihren Verwandten missionsaktiv gewesen. Keiner aus ihrer Familie sei jedoch zu Jehovas Zeugen konvertiert. Obwohl sie lediglich die Volksschule habe absolvieren können, sei sie eine starke Persönlichkeit und sehr gut in der Lage gewesen, ihre Meinung zu vertreten – besonders in Glaubensdingen. Sie habe ihm auch davon erzählt, dass sie eine sehr schöne Handschrift hatte – das, so erinnert sich ihr Enkel an ihre Erzählungen – „hätte ihr sogar das Leben gerettet“.
Nach dem Krieg bis kurz vor ihrem Tod wurden im Wohnzimmer von Marie Schättle religiöse Zusammenkünfte abgehalten. Die Teilnehmer kamen zu Fuß aus Schwalbach, Eschborn und Sulzbach. Marie Schättle starb im Jahr 1960 im Alter von 77 Jahren.
Marie Schättle blieb in Frankfurt/Main zunächst allein, dann in der wachsenden Gemeinde und schließlich sogar fast 8½ Jahre im KZ unerschütterlich ihrer religiösen Überzeugung treu. Der Stolperstein in der Palmengartenstraße 3 erinnert an die erste Zeugin Jehovas in Frankfurt.
1 Vgl. Adressbuch der Stadt Frankfurt am Main, 1907.
2 Vernehmungsprotokoll, 03.03.1937 (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW], Abt. 461, Nr. 7670).
3 Ebd.
4 Vgl. Adressbuch der Stadt Frankfurt am Main, 1915.
5 Vgl. Telefonat zwischen Dr. Edgar Schättle (Enkel von Marie Schättle) und Erika Krämer, 23.05.2011.
6 Ebd.
7 Vgl. Brief des Bürgermeisters von Schwalbach am Taunus an den Landrat des Main-Taunus-Kreises, 14.02.1938 (HHStAW, Abt. 425, Nr. 519a). Da Marie Schättle bis kurz vor ihrer Verhaftung in der Palmengartenstraße 3 wohnte, wurde diese Adresse auch als Ort für den Stolperstein gewählt.
8 Vernehmungsprotokoll (Anm. 2).
9 Vgl. Sondergerichtsanklage gegen Marie Schättle et al., 22.03.1937 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7670).
10 Vgl. Vernehmungsprotokoll (Anm. 2).
11 Vgl. ebd.
12 Ebd.
13 Die „Luzerner Resolution“ wurde am 12.12.1936 reichsweit innerhalb einer Stunde (ab 17.00 Uhr) in einer Briefkastenaktion verbreitet. Eine zweite Aktion fand im Februar 1937 statt. Darauf brach über die Zeugen Jehovas in Frankfurt Anfang März 1937 eine Verhaftungswelle herein.
14 Für das Ehepaar Anna und Ernst Muth werden im Mai 2016 ebenfalls Stolpersteine verlegt.
15 Rödelheim ist ein Stadtteil im Westen von Frankfurt.
16 Vgl. Vernehmungsprotokoll (Anm. 2).
17 Vgl. Feststellung und Bericht des Gendarmerie-Abteilungsbereichs Frankfurt-Höchst, 04.03.1937 (HHStaW, Abt. 425, Nr. 519a).
18 Vgl. Sondergerichtsanklage (Anm. 9).
19 Ebd.
20 Vgl. Mitteilung der Gemeinde Sulzbach (HHStAW, Abt. 425, Nr. 391). Frankfurt-Höchst war die Kreisstadt des Main-Taunus-Kreises, zu dem die Gemeinden Schwalbach/Taunus und Sulzbach/Taunus gehörten.
21 Das Polizeigefängnis Frankfurt befand sich in der Klapperfeldstraße.
22 Vgl. Gestapo-Mitteilung an den Polizeipräsidenten Frankfurt, 29.08.1937 (HHStAW, Abt. 425, Nr. 519a).
23 Vgl. Anfrage der Gestapo an Landrat des Main-Taunus-Kreises, 05.02.1938 (HHStAW, Abt. 425, Nr. 519a).
24 Vgl. Brief des Bürgermeisters von Schwalbach an den Landrat des Main-Taunus-Kreises, 07.02.1938 (HHStAW, Abt. 425, Nr. 519a).
25 Auskunft von Frau Engler, Gedenkstättenleiterin der Gedenkstätte KZ Lichtenburg, 29.01.2016.
26 Vgl. Transportliste des Transports von Moringen nach Lichtenburg (Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa [JZD], Dok 21/02/38 [1]).
27 Vgl. Wiedergutmachungsakte (HHStAW, Abt. 518, Nr. 610). Somit gehörte Marie Schättle zu den ersten Häftlingen im KZ Ravensbrück, das offiziell erst am 15. Mai 1939 eröffnet wurde. Die Stärkemeldung vom 21. Mai 1939 ergibt, dass unter den 974 weiblichen Gefangenen dort 388 Zeuginnen Jehovas inhaftiert waren. Vgl. Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück – Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003, S. 103.
28 Auskunft von M. Schnell, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 01.02.2016.
29 Vgl. Wiedergutmachungsakte (Anm. 27).
30 Auskunft von M. Schnell, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 08.02.2016.
31 Vgl. Fragebogen „Verfolgung der Zeugen Jehovas“, die Marie Schättle am 18.11.1945 und am 23.02.1946 ausfüllte (JZD).
32 Vgl. Wiedergutmachungsakte (Anm. 27).
33 Vgl. Fragebogen (Anm. 31).
34 Vgl. Wiedergutmachungsakte (Anm. 27). Sie litt an vorzeitigen Alterserscheinungen und der Blutkrankheit Polycythämie.
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Telefonat Dr. Edgar Schättle (Anm. 5).