Frieda und Willy Hild
Wilhelm Heinrich Hild („Willy“) wurde am 30. Dezember 1894 in Frankfurt-Höchst in die evangelische Familie Jakob und Margarete Hild (geb. Wagner)1 hineingeboren. Er besuchte von 1900 bis 1908 die Meisterschule in Frankfurt-Höchst,2 danach das Konservatorium in Göttingen und sammelte anschließend beim Städtischen Orchester dort erste Berufserfahrungen als Musiker (Hauptinstrumente: Geige und Flügelhorn; Nebeninstrumente: Viola und Trompete). Ab Frühjahr 1912 musizierte er erfolgreich in Orchestern, u. a. in Bad Soden und Ratibor und von Dezember 1912 bis März 1913 auf der „Windhuk“, die von Hamburg aus Afrika umrundete. Sein Enkel erinnert sich an eine Muschelsammlung in der Vitrine seines Großvaters, die dieser von seiner Afrikareise mitgebracht hatte.3 Nach seiner Rückkehr musizierte er in Breslau, Königsberg und Memel.4
Im Ersten Weltkrieg war er als Hilfsoboist und Hilfssanitäter beim Militär. Aus dieser Zeit sind noch viele handgeschriebene Notenblätter von Willy Hild erhalten – jeweils mit Ortsangabe, Datum und Unterschrift, so dass sich einige Stationen nachvollziehen lassen, z. B. Marteville in Frankreich und im Sommer 1917 Borodino in Russland. Eine Kriegsverletzung führte später zur Epilepsie.5
Nach dem Krieg musizierte er in Frankfurt zunächst bei den Alemannia-Lichtspielen und als Hintergrundmusiker für Stummfilme, dann im neugegründeten Sinfonieorchester (dem späteren Rundfunkorchester) und bei den Schwan-Lichtspielen.6 Am 22. August 1919 heiratete er Fanny Frieda Buck aus Malmsheim.7 Das junge Paar lebte in Frankfurt und bekam eine Tochter: Elsa.
Ab 16. August 1924 arbeitete Willy Hild im Opernhaus-Orchester Frankfurt als 2. Violinist (unter 100 Bewerbern war die Wahl auf ihn gefallen).8 Irgendwann danach kam Frieda mit den Bibelforschern (heute Jehovas Zeugen) in Verbindung. Sie konvertierte und ihr Mann tat es ihr später gleich.
Nach der „Machtergreifung“
Während einer Feier der Handwerkskammer in der Paulskirche fiel auf, dass sich Willy Hild „beim Singen des Deutschlandliedes nicht von seinem Platz und die Hand zum deutschen Gruß erhob, sondern in den Noten blätterte“. Eine ähnliche Situation etwas später hatte ernste Konsequenzen. Sein Zellenleiter im Orchester zeigte ihn an: „Am Freitag [10.11.1933] bei der Rede des Führers machte er sich desselben Vergehens schuldig. [...] Ich stand im Orchesterraum, vor mir stand Herr Hild. Als nun der Führer seine Rede beendet hatte und alles von den Plätzen aufstand, den Arm erhob und das Horst Wessel Lied sang, drehte Herr Hild sich herum, sah auf seine Uhr und wollte den Orchesterraum verlassen. Ich fasste sofort seinen Arm und sagte: Wohin? Als Antwort erhielt ich: Hinaus! Ich antwortete: Sie bleiben hier! Gegenantwort: Wer will mich daran hindern. Darauf von mir: Ich! Ich gebe Ihnen den direkten Befehl, als Zellenleiter des Orchesters der N.S.B.O. [Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation] habe ich das Recht dazu, Sie bleiben hier oder ich führe Sie sofort zum Generalintendanten. [...] Dr. Ley brachte das Sieg Heil auf unseren Führer aus, alle Kollegen erhoben den Arm. Herr Hild hielt es nicht für nötig, den Arm zu erheben. Ich habe sofort den Kollegen Lugert gefragt: Haben Sie das gesehen, der bestätigte meine Frage mit dem Wort: Ja!“9
Frieda Hild
Willy Hild spielte bis zu seiner Inhaftierung im Frankfurt Opernorchester.
Am Dienstag, dem 14. November 1933, kam der Vorfall im Intendantenzimmer des Opernhauses zur Verhandlung. Generalintendant Meissner verlas die Meldung des Zellenleiters und forderte Willy Hild zur Stellungnahme auf. Er erklärte, dass ihn der Ton des Zellenleiters „äußerst erregt habe, dass er überhaupt infolge im Feld zugezogener nervöser Störungen sehr leicht erregbar sei“. Der Generalintendant ließ das nicht gelten. Er befand, „dass Hild fortgehen wollte, um sich an dem Gruß nicht beteiligen zu müssen, und dass er sich auch später bei dem Ausbringen des Siegheils auf den Führer nicht beteiligt habe“ und „dass sich Hild nicht positiv zum neuen Staat einstellen könne. Deshalb könne er ihn nicht mehr beschäftigen. Er eröffnet Herrn Hild, dass er mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres beurlaubt sei, und ersuchte ihn, die Theatergebäude nicht mehr zu betreten.“ Der Generalintendant verwies Willy Hild des Hauses. Danach rief man einen anderen Musiker herein, der die Meldung des Zellenleiters im Wesentlichen bestätigte, sich aber an Details nicht mehr genau erinnern konnte: „Ob Hild den Arm beim Siegheil nicht erhoben hat, kann er nicht mit Bestimmtheit bezeugen.“10 Man informierte Oberbürgermeister Dr. Krebs über den Vorfall und erbat seine Entscheidung. Am 24. November erklärte Willy Hild in einem Brief an den Generalintendanten, „dass ich mich niemals mit Politik beschäftigte, noch je einer Partei angehörte. Meiner Überzeugung nach als Bibelforscher ist die Bibel das Wort Gottes; (staatlich anerkannt) u[nd] nach diesem Inhalt lebe und handle ich [...] Kann ein Mensch, wenn er so handelt u[nd] lebt, seine Stellung verlieren?“11 Darauf folgte eine neue Verhandlung. Der Verwaltungsdirektor Staubesand machte Willy Hild Vorhaltungen, so dass der Musiker zunächst einräumte: „Ich sehe ein, dass ich mich falsch verhalten habe, und gebe das Versprechen ab, für die Folge keinen Anlass mehr zu geben, an meiner aufrichtigen Gefolgschaft an der nationalen Regierung Zweifel zu geben.“12 Man verurteilte ihn zur Erstattung der durch seine Beurlaubung entstandenen Kosten und zur Zahlung von 50 RM an die Witwen- und Waisenkasse des Orchesters. Ab 4. Dezember 1933 musizierte er wieder bei den Städtischen Bühnen. Doch die Ruhe sollte nicht lange währen.
Willy Hild mit dem Kinoorchester Allemania, in dem er als Violonist angestellt war.
Im Oktober 1935 erlitt Willy Hild während einer Orchesterprobe einen epileptischen Anfall. Daraufhin attestierte ihm ein Arzt, dass er wegen eines Nervenleidens nicht an einer Veranstaltung am 1. Mai 1936 (Tag der nationalen Arbeit) teilnehmen könne. Dass Willy Hild sich durchaus um Kooperation bemühte, geht aus vielen Dokumenten in seiner Personalakte hervor. So füllte er die Fragebögen zum neuen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus, erbrachte Nachweise über seine eigene Abstammung und die seiner Ehefrau und gab diverse Erklärungen über Verbandszugehörigkeiten ab. Er unterzeichnete ein „Gelöbnis“, dem Führer zu gehorchen und seine Dienstobliegenheiten gewissenhaft und uneigennützig zu erfüllen. Allerdings erklärte er auch, dass er kein politisches Amt bekleiden könne.13 Er ging also nicht leichtfertig auf Konfrontationskurs, folgte jedoch gleichzeitig seinem christlichen Gewissen.
Seine gesundheitlichen Probleme hielten an. Am 22. Dezember 1936 fiel er in einer Spielpause in Ohnmacht und zog sich eine Sturzverletzung zu. Die Unfallmeldung machte das Stadtgesundheitsamt auf ihn aufmerksam. Im März 1937 diagnostizierte man Epilepsie als Folge seiner Kriegsverletzung. Das Stadtgesundheitsamt stellte fest: „Da die Ehefrau 45 Jahre alt ist, besteht keine dringende eugenische Gefahr.“14 Es folgten Untersuchungen und Anhörungen von Augenzeugen des Sturzes im Opernhaus. Schließlich entschied Prof. Hahn vom Stadtgesundheitsamt, dass Hild weiter beobachtet werden, aber keine Sterilisierungsanzeige erfolgen solle.15
Bei alldem blieb Willy Hild missionarisch aktiv. Anfang Mai 1938 wurde er in seiner Wohnung verhaftet (Marbachweg 291, 1. Stock) und am 25. Mai wegen seiner Tätigkeit als Bibelforscher in „Schutzhaft“ genommen.16 Am 23. Mai nahm man auch Frieda in ihrer Wohnung fest. Doch der Gefängnisarzt attestierte ihr nach 5 Tagen Haftunfähigkeit wegen eines Herzleidens, das sich seit der Verhaftung ihres Ehemanns noch verschlimmert hatte.17
Im Juli 1938 fragten die Städtischen Bühnen bei der Gestapo nach, ob Hild wegen staatsfeindlicher Handlungen verhaftet worden und deshalb eine Entlassung geboten sei. Die Gestapo meldete sich telefonisch bei Generalintendant Meissner: „Anruf der Geheimen Staatspolizei am 15. Juli, 12 Uhr 15. Die GESTAPO teilt mit, dass Herr Hild aufgrund illegaler Betätigung im Bund der Bibelforscher verhaftet worden sei.“18
Die Repressalien, die Willy Hild wegen seines Glaubens erdulden musste, beschränkten sich nicht auf seinen Arbeitsplatz. In seiner Wohnung fanden wiederholt Hausdurchsuchungen statt. Einmal versteckte Elsa Hild geistesgegenwärtig eine Ausgabe des Goldenen Zeitalters (heute Erwachet!) unter einem Stuhlkissen, so dass die Gestapo unverrichteter Dinge wieder abziehen musste.19
Nach seiner Verhaftung hatte man Willy Hild ins für Misshandlungen berüchtigte Polizeigefängnis Klapperfeldstraße verbracht. Hier schrieb er den einzigen noch erhaltenen Brief an seine Frau: „Liebe Frieda! Sende hiermit meine Papiere. Auch bitte ich Dich, hier im Gefängnis an der Kasse 3 RM. einzuz[ahlen]. Bitte baldigst! Vorläufig ist ja keine Erlaubnis, zu mir zu kommen. Sei recht herzl. gegrüßt u. Else – Papa.“ Der Brief trug einen Vermerk der Haftanstalt: „Das Geld ist an der Kasse im Polizeigefängnis einzuzahlen. Besuchererlaubnis wird erst dann genehmigt, wenn Überführung ins Lager erf[olgt].“20 Am 29. Juli 1938 verschleppte man Willy Hild nach Buchenwald (Häftlingsnummer 5159, Arbeit im Steinbruch) – wie die Gestapo am 4. August Oberbürgermeister Krebs per Einschreiben wissen ließ, mit ungewisser Aufenthaltsdauer, so dass seine fristlose Kündigung angetragen werde.21 Das Kulturamt reagierte umgehend: „Nach Mitteilung der Geheimen Staatspolizei haben Sie sich staatsfeindlich für die illegale Internationale Bibelforscher-Vereinigung betätigt und sind deshalb in Schutzhaft genommen worden. Ich sehe mich daher gezwungen, Sie aus einem wichtigen Grunde gemäss § 626 BGB. fristlos aus dem städtischen Dienst zu entlassen.“22
Friedas Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter. Elsa fragte bei der Lagerverwaltung Buchenwald nach einer Haftentlassung ihres Vaters. Die Antwort: „Auf Ihr Schreiben vom 27.3.39 teile ich Ihnen mit, daß Ihr Vater doch noch an der Irrlehre der IBV [Internationale Bibelforscher Vereinigung] festhält und auf Befragen erklärt, nicht davon abgehen zu wollen. Es kann daher heute der Tag seiner Entlassung noch nicht festgelegt werden.“23 Am 30. April 1939 starb ihre Mutter mit 47 Jahren, ohne ihren Mann noch einmal gesehen zu haben. Elsa erklärt rückblickend: „Sie starb […] einen frühen Tod, der durch ihre u[nd] ihres Ehemanns Verfolgung bedingt war.“24 Später wurde diese Einschätzung ärztlich bestätigt: „Die Todesursache war laut Bericht eine schwere Herzmuskelschädigung mit Herzerweiterung. Nach den damaligen Verhältnissen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dieser schwere Herzschaden zum Teil wenigstens auf die schweren körperlichen und seelischen Insulte, die die Kranke durchmachen musste, zurückzuführen ist.“25
Rückseite eines Briefes, den Willy Hild aus dem Konzentrationslager Buchenwald schrieb.
Von nun sandte Willy Hild seine Briefe nur noch an seine Tochter – den ersten aus Buchenwald (Block 44) am 15. Dezember 1940 – mit ganzen 6 Zeilen und dem rückseitigen „Vermerk der Kommandantur des K.-L. Buchenwald: Der Schutzhäftling ist nach wie vor hartnäckiger Bibelforscher und weigert sich, von der Irrlehre der Bibelforscher abzulassen. Aus diesem Grunde ist ihm lediglich die Erleichterung, den sonst zulässigen Briefverkehr zu pflegen genommen worden. Der Lagerkommandant.“26 Wie alle Lila-Winkel-Häftlinge beorderte man Willy Hild regelmäßig in die Kommandantur, um festzustellen, ob er bereit sei, seinem Glauben abzuschwören. Man versprach ihm die sofortige Freilassung und Wiederanstellung als Musiker an der Frankfurter Oper, wenn er die geforderte Unterschrift leiste. Doch Willy Hild hielt an seiner Überzeugung fest und war auch nicht bereit, seine Glaubensbrüder zu verraten (unter seinen Mithäftlingen waren auch Frankfurter: der Bäcker Martin Bertram aus der Rohrbachstraße und der Postschaffner Valentin Steinbach). Dafür schlug man ihm in einem Verhör Zähne aus. Seine Reaktion war jeweils der Satz „Wie Gott will“.27
Im Mai 1941 bedankte sich Willy Hild bei seiner Tochter für die Post „von den Lieben in Höchst“, erinnerte sie jedoch daran, dass er „nur eine Post im Monat“ empfangen darf.28 In seinem Brief von August 1941 (inzwischen lag er im Block 50) war er in Gedanken bei seiner verstorbenen Frau: „Wie sieht das Grab aus?“29 Im selben Monat erhielt er von seiner Tochter die sehr persönliche Nachricht über ihre bevorstehende Hochzeit. Er antwortete: „Ich war erstaunt über Dein Vorhaben. Du bist ja alt genug, um zu wissen, ob es so gut ist. Die [Ehe-]Ringe [ihrer Eltern] kannst Du benutzen.“30 Selbst anlässlich ihrer Hochzeit durfte der Vater nicht bei seiner Tochter sein und ihr nicht mehr als 5 Zeilen schreiben. Bis 30. August 1942 hatte sie in Abwesenheit ihres Vaters geheiratet: „Seid wohl jetzt verheiratet. Wieviel Zimmer habt Ihr? Wo ist Dein Mann beschäftigt u. wie lange?“31 Am 14. März 1943 durfte Willy Hild den einzigen längeren Brief an seine Tochter schreiben – er war inzwischen Opa geworden: „Wie ich […] ersehe, geht es Dir, Deinem Renato und Deinem erstgeborenen Kinde ‚Mario‘ noch gut. Ich freue mich, daß Du alles gut überstanden hast, und bitte Dich, achte auf die Gesundheit weiterhin. Deinen Renato, sowie dein Poppelchen Mario möchte ich mal kennen lernen.“32 Der letzte erhaltene Brief vom 8. Oktober 1944 war wieder gewohnt kurz und mit dem üblichen Vermerk versehen.33
Als Musiker im Lager
Als in Buchenwald Musiker für die Lagerkapelle gesucht wurden, entdeckte man Willy Hilds musikalische Fähigkeiten. Er spielte nicht selbst in der Lagerkapelle, doch transponierte und schrieb er die Noten, auch für die SS. Seine Notenschrift war außergewöhnlich schön.34 Ein Mithäftling erinnert sich, dass er dennoch im Lager musizierte: „Mehrmals erlebte ich, dass wir früh, kurz vor dem Wecken, von der einschmeichelnden Melodie des Brahms’schen Wiegenliedes aus dem Schlaf geweckt wurden. Wieder hatte ein Kamerad Geburtstag, und seine Freunde hatten den ‚Kapellmeister‘ der Lagerkapelle, den Kameraden Held, bestellt, der sich in den Schlafsaal schlich und seiner Ziehharmonika leise die wehmütigen Töne entlockte.“35 „[Es] spricht viel dafür, daß es sich bei Ernst Haberlands Textauszug um Willy Hild handelt und die Differenz [im Vokal] sich auf schwer nachvollziehbarem Weg eingeschlichen hat.“36 „Mit großer Sicherheit ist davon auszugehen, dass Ernst Haberland in seinem Buch über den Musiker Willy Hild berichtete. Ein Häftling mit dem Namen ‚Held‘ ist unter den Lagerkapell-Musikern nicht feststellbar.“37
Dieses Bandoneon wurde von Willy Hild im KZ Buchenwald gespielt.
Spätere Berichte zeigen, dass Willy Hild auch für die heimlichen Treffen der Bibelforscher Lieder schrieb und sie auf einem Bandoneon (einer Ziehharmonika) begleitete.38 Vor einiger Zeit tauchte ein Bandoneon auf, das mit dem KZ Buchenwald in Verbindung stand. Werner Abresch, der Besitzer, stellte Recherchen an, die ihn zu Willy Hild führten: „1987 – im Zusammenhang mit meiner ersten Ausstellung im Weseler Bühnenhaus ‚Als wir zu Erfrierenden wurden, Erinnerungen an die Nachkriegszeit‘ – bot mir ein Mann aus Voerde am Niederrhein jenes Instrument an. Er selbst stammte, wenn ich mich recht erinnere, aus der Gegend von Erfurt bzw. Buchenwald und hatte das Bandoneon von einem dortigen Freund oder Bekannten bekommen. Ich glaube, ich habe damals 200 DM dafür bezahlt.“ Das Instrument befand sich in einer grünen Stofftasche, die Willy Hild wohl von einem amerikanischen Soldaten zum Transport seines Instruments erhalten hatte. „Meine Recherchen zu dem Instrument ergaben: der ehemalige Häftling (zusammen mit dem Bandoneon und der Tasche des Amerikaners) habe nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager eine Zeit (kurz oder lang?) bei dem ‚DDR-Mann‘ [ein Bekannter des Vorbesitzers] verbracht/gewohnt. Er muß dann das Bandoneon wohl in dessen Haus zurückgelassen haben.“39 Heute ist dieses Instrument mitsamt der grünen Stofftasche Teil der Ausstellung im Preußen-Museum Wesel.
Die Heimkehr
Nach der Befreiung des KZ Buchenwald am 11. April 1945 kehrte Willy Hild nach Frankfurt zurück, wo er zunächst bei seiner Tochter wohnte – und nun auch seinen Schwiegersohn und seinen Enkel kennen lernte. Am 29. Mai 1945 stellte er den Antrag auf Wiedereinstellung in das Opernorchester, die zum 1. Juni 1945 mit vollen Dienstbezügen erfolgte. Doch die KZ-Haft hatte seine Epilepsie derart verschlimmert, dass er nicht mehr als Musiker arbeiten konnte. Im Oktober 1945 stellte er den Antrag auf Übernahme in die Verwaltung, den man wegen seiner „sehr guten Handschrift und seiner kaufmännischen Vorbildung“ befürwortete.40 Auch der Amtsarzt sprach sich am 2. November 1945 dafür aus – mit der Option der späteren Rückversetzung ins Orchester.41 Gleichzeitig jedoch stellten die Städtischen Bühnen den Rentenantrag: „Der Orchestermusiker Willy Hild leidet an epileptischen Anfällen und ist für das Opernorchester nicht mehr tragbar.“42 Als Willy Hild am 1. September 1946 in den Ruhestand ging, verwies er schriftlich auf seine KZ-Haft, so dass die Städtischen Bühnen die Rentenbeiträge für seine Haftzeit nachzahlten43 und später bestätigten: „Herr Hild wurde vorzeitig zur Ruhe gesetzt, denn sein 7-jähriger Aufenthalt im KZ hat sich ohne Zweifel auf seine künstlerischen Fähigkeiten ausgewirkt. Herr Hild legt noch Wert darauf, dass ihm von uns aus bescheinigt wird, dass er im Februar 1934 zu einer Ordnungsstrafe von RM 50.-- und Übernahme der Vertretungskosten von RM 65.--, insgesamt RM 115.-- herangezogen worden ist. Diese Strafe hat er ausweislich seiner Personalakten infolge seines Benehmens gelegentlich der Übertragung der Führerrede am 10.11.1933 erhalten. Unterschrift Städtische Bühnen.“44
Im Februar 1947 heiratete Willy Hild eine ehemalige Kollegin, die Opernsängerin Martha Grässler. Sie wohnten erst in Frankfurt-Sossenheim, ab Mitte der 1960er-Jahre dann in Mespelbrunn im Spessart. Martha verstarb am 14. November 1973 in Mespelbrunn, Willy am 23. September 1977 in Bessenbach.
Frieda und Willy Hild blieben beide ihrer Überzeugung bis zum Tod treu. Trotz Arbeitsverlust, langen Jahren im KZ und Haftfolgeschäden taten beide ihr Möglichstes, ihre Familie zu schützen und dabei ihrer religiösen Überzeugung treu zu bleiben.
Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 01. Februar 2022:
https://www.fr.de/frankfurt/frankfurt-den-hitler-gruss-verweigert-91274887.html
1 Vgl. Heiratsurkunde von Jakob und Margarete Hild (Unterlagen aus Privatbesitz [UaP]).
2 Vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt (ISG), Personalakten, Sig.-Nr. 135.279.
3 Vgl. Gespräch mit M. Zagni, 10.11.2004.
4 Vgl. ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Personalakte, Lebenslauf).
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. Gespräch Zagni (Anm. 3 – s. auch Foto 3); Erinnerungsbericht (EB) M. Zagni.
7 Vgl. Heiratsurkunde von Willi und Frieda Buck, 22.08.1919 (UaP). Malmsheim ist heute ein Ortsteil der Stadt Renningen im Landkreis Böblingen.
8 Vgl. ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279; Gespräch Zagni (Anm. 3); EB Zagni (Anm. 6).
9 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Meldung des Zellenleiters des Orchesters an seinen Generalintendanten, 13.11.1933; Schreibweise originalgetreu).
10 ebd. (Protokoll vom 14.11.1933).
11 ebd. (Brief vom Willy Hild an den Generalintendanten, 24.11.1933).
12 ebd. (Protokoll vom 27.11.1933).
13 Vgl. ebd. (Blatt 12).
14 Ebd.
15 Vgl. ebd. (Notiz vom 03.08.1937).
16 Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA WI), Abt. 518, Nr. 15776, Bd. 1.
17 Vgl. HHStA WI, Abt. 518, Nr. 15773.
18 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Notiz vom 15.07.1938).
19 Vgl. Gespräch Zagni (Anm. 3); EB Zagni (Anm. 6).
20 Brief ohne Datum (UaP).
21 Vgl. ISG, Wiedergutmachungsakte, Sig.-Nr. 2.702; Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Brief vom 04.08.1938).
22 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Entlassungsschreiben [Einschreiben] vom 02.09.1938).
23 Brief vom 31.03.1939 (UaP).
24 ISG, Wiedergutmachungsakte, Sig.-Nr. 2.701.
25 HHStA WI, Abt. 518, Sig.-Nr. 15773 (ärztliche Bescheinigung von Dr. Huxel).
26 UaP. Diesen Vermerk trugen alle folgenden Briefe aus Buchenwald (der nächste datiert auf 15.02.1941).
27 Vgl. Gespräch Zagni (Anm. 3); EB Zagni (Anm. 6).
28 Brief vom 17.05.1941 (UaP).
29 Brief vom 17.08.1941 (UaP).
30 Brief vom 20.09.1941 (UaP).
31 Brief vom 30.08.1942 (UaP).
32 Brief vom 14.03.1943 (UaP).
33 Brief vom 08.10.1944 (UaP).
34 Notenpartituren (UaP); cf. Dokumente 19 und 20.
35 Ernst Haberland, Der Pelerinenmann, Berlin 1981, S. 180.
36 Auskunft der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, 08.10.2002.
37 Auskunft der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, 21.10.2002.
38 Gespräch mit W. Schönstein, 21.11.2004.
39 Brief von W. Abresch, 06.12.2004.
40 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Schreiben vom 12.10.1945).
41 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 1 (Schreiben vom 02.11.1945).
42 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 2 (Schreiben vom 02.11.1945).
43 ISG, Personalakten, Sig.-Nr. 135.279 (Schreiben vom 28.07.1947).
44 Dokument vom 08.12.1949 (UaP); cf. Bettina Schültke, Theater oder Propaganda? Die Städtischen Bühnen Frankfurt am Main 1933–1945 (Studien zur Frankfurter Geschichte 40), Frankfurt/Main 1997, S. 85.