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Anna Engler

Anna Margarethe Gahm wurde am 19. August 1892 in Rothenburg ob der Tauber1 in eine evangelische Familie hineingeboren. Sie hatte vier Brüder und eine Schwester,2 alle ihre Brüder lernten den Beruf des Wagners, ihre Schwester wurde Krankenschwester in der Privatklinik Rothenburg. Um 1906 beendete Anna die Schule und arbeitete als Hausangestellte zunächst bei einer Familie in Rothenburg, später bei einem Arzt in München, ab 1914 in Frankfurt. Dort lernte sie in der Tanzschule Albert Engler kennen und lieben (geb. 01.08.1886 in Frankfurt, ebenfalls evangelisch).3 Im selben Jahr besuchten sie einen Vortrag der Bibelforscher;4 sie heirateten am 25. April 1916.5 Albert wurde kurz nach der Heirat zum Militär eingezogen. Im Mai 1918 wurde ihr erster Sohn Hans geboren.

„Nachdem ich durch den Ausgang des 1. Weltkrieges die Voraussagen der Bibelforscher vom Jahr 1914 bestätigt fand“ – das war, wie Anna selbst schreibt, der Auslöser für ihren Entschluss, sich 1919 aktiv den Bibelforschern anzuschließen.6 Zunächst erklärte ihr Ehemann, der Handlungsgehilfe Albert Engler, am 13. Januar 1919 seinen Austritt aus der evangelischen Kirche, Anna folgte am 25. November 1919. Aus der Bescheinigung darüber ist ersichtlich, dass die Familie zu dieser Zeit in der Gronauer Straße 18 im 2. Stock wohnte.7 Im März 1920 ließen sich beide als Bibelforscher taufen.8 1922 wurde die Tochter Frieda geboren, 1926 der Sohn Paul. Albert Engler war mittlerweile bei einer Frankfurter Tageszeitung angestellt, verlor jedoch wegen der Wirtschaftskrise seine Arbeit. Die Mutter ging zwei Tage in der Woche arbeiten, um etwas dazu zu verdienen. Trotz dieser schwierigen Umstände erinnert sich Paul an seine Mutter als „immer freudig“.9

Die Begeisterung der Mutter für ihre religiösen Anschauungen steckte die Tochter Frieda schon früh an: Sie besuchte die Kinderversammlung der Bibelforscher, „bis 1933 Hitler alle Versammlungen der Zeugen Jehovas auflöste“10 – da war sie gerade 11 Jahre alt, der kleine Paul war erst 6. Seine Mutter erklärte später, aus der Bibel die Überzeugung gewonnen zu haben, dass Menschen ihr den christlichen Missionsauftrag nicht verbieten könnten. Daher blieb sie ungeachtet des Verbots über zwei Jahre hinweg missionsaktiv (sogar von Haus zu Haus), oft gemeinsam mit Mathilde Lehnert. Auch Hausdurchsuchungen, Vorladungen und Verwarnungen der Gestapo änderten daran nichts.11 Frieda erzählt aus dieser Zeit:

„Als Adolf Hitler in der Nähe von Frankfurt [am 23.09.1933] den 1. Spatenstich für die Autobahn machte, sollten die Schüler der Helmholtz-Oberrealschule ihm mit Heil-Rufen zujubeln. Da mein Bruder Hans zu Hause blieb, wurde meine Mutter zum Direktor bestellt. Auf ihre biblische Begründung entgegnete er, ‚daß immer die besten sich ausschließen‘“ Frieda beantwortete die Frage des Lehrers, warum sie nicht im BDM sei, mit den Worten: „Weil meine Eltern mich selbst erziehen wollen.“12

Am 18. Januar 1934 wurde Anna Engler erwischt, als sie „sich im Sinne der verbotenen Bibelforscher“ betätigte. Am 24. Mai 1934 fanden „weitere Vernehmungen im Strafverfahren (Bibelforscher)“ statt. Doch Anna blieb weiter für ihre Überzeugung aktiv. Am 24. November 1934 wurde in die Gestapo-Karteikarte eingetragen: „Hat am 21.11.34 an einer Versammlung der Bibelforscher in Dreieichenhain teilgenommen, welche von der Stapo Offenbach aufgelöst wurde. Das anlässlich der Durchsuchung am 23.11.34 gefundene Material wurde der Stapo Offenbach überlassen.“13

Anna Engler, ca. 1940

Foto: Quelle: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Die Kinder bekamen die Hausdurchsuchungen und die Vorladungen der Mutter bei der Gestapo natürlich mit. Kam sie wieder nach Hause, ließen sich die drei Kinder stets den Verlauf des Verhörs berichten und waren stolz darauf, wie die Mutter sich verteidigt hatte. Frieda erzählt: „Einmal holte unsere Mutter Nachschub [an verbotener Bibelforscher-Literatur] aus Kassel. Im Bahnhof trug ihr ein freundlicher Polizist nichtsahnend den schweren Koffer durch die Sperre.“14 Und Paul fügt hinzu, der Polizist habe ihr den Koffer sogar bis ins Zugabteil getragen.15

An vielen Orten hatten die Glaubensangehörigen ihren Missionsdienst stark eingeschränkt. Ein Artikel im „Wachtturm“ vom 1. Dezember 1933 ermutigte sie jedoch, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Das führte dazu, dass sich viele Zeugen Jehovas, ihrem Gewissen folgend, wieder in kleinen Gruppen in ihren Wohnungen zu Gottesdiensten trafen und ihr Missionswerk vorsichtig wiederaufnahmen.16 Anna Engler gehörte zu den sehr mutigen Frauen in Frankfurt, die unbeirrt weitermachten. Ihr Mut wurde weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Zeugen Jehovas aus Mannheim baten sie um Hilfe bei der Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit. Am 13. Januar 1935 fuhr Anna zusammen mit 12 weiteren Zeugen Jehovas nach Mannheim.17 Sie schrieb: „Dort wurde ich zum erstenmal in einem Hause beim Anbieten der Schriften verhaftet. Ich blieb dort 5 Wochen in Untersuchungshaft, wurde dann auf freien Fuß gesetzt, um an einer Verhandlung in Offenbach, wo ich Angeklagte war in der selben Sache, teilzunehmen.“18 Anna Engler war offensichtlich allein unterwegs und wurde als Einzige verhaftet – sie klingelte unwissentlich am Haus eines Polizisten.19 Die anderen aus der Gruppe warteten vergebens auf sie und erfuhren erst auf Nachfrage bei der Polizei, dass Anna verhaftet worden war.20 Sie saß von 13. Januar 1935 bis 11. Februar 1935 im Untersuchungsgefängnis Mannheim ein.21 In ihrem Haftbrief vom 24. Januar 1935 dankte sie ihrem Mann, dass er nun die Versorgung der Kinder allein schulterte. An die drei Kinder schrieb sie: „Tut, was ihr könnt, um den Papa zu entlasten und vertragt euch und seid guten Mutes.“ An jedes der Kinder richtete sie noch einen persönlichen Satz.22

Das Sondergericht Darmstadt verurteilte sie am 25. Februar 1935 in Offenbach „wegen Aufrechterhaltung verbotener Organisation“ zu 1 Monat Gefängnis, durch die 5 Wochen U-Haft bereits verbüßt. Anna selbst gab dazu rückblickend an: „Wegen der verbotenen öffentlichen Werbung in Dreieichenhain und der Teilnahme an einer gemeinsamen Fahrt nach Mannheim […] wurde ich im zusammengezogenen Verfahren vom Sondergericht in Offenbach a/Main mit einem Monat Gefängnis bestraft.“23

Anna kehrte zu ihrer Familie in die Scheidswaldstraße 17 in Frankfurt-Bornheim zurück.24 Die Haftstrafe schüchterte sie jedoch keineswegs ein – hochengagiert und kreativ nahm sie gleich nach ihrer Freilassung gemeinsam mit Mathilde Lehnert die Belehrung der Bibelforscher-Kinder in Frankfurt wieder auf – was ihr in der nächsten Haftphase auch prompt zur Last gelegt wurde: Am 23. März 1935 gab die Staatspolizeistelle Frankfurt einen Erlass bezüglich der jährlichen Abendmahlfeier heraus, die die Bibelforscher in diesem Jahr am Abend des 17. April begingen: „Ein überraschender Zugriff bei den bekannten führenden Funktionären der Bibelforscher zu dem angegebenen Zeitpunkt dürfte unter Umständen erfolgversprechend sein. Um Erfolgsnachricht wird ersucht.“25

Bereits am 18. April 1935 ging eine „Erfolgsmeldung“ der Staatspolizeistelle Frankfurt an das Gestapa. Um 18.15 Uhr [am 17.04.1935] sei ein „überraschender Zugriff“ bei bekannten Bibelforschern durchgeführt worden; dabei habe man 12 Erwachsene (1 Mann und 11 Frauen) sowie 15 Kinder angetroffen, die auf einem Kinderfest eine Theatervorstellung gegeben hatten – dem Gestapo-Bericht lag die „Herzliche Einladung zu Königreichsfreuden“ bei, die an enge Freunde ergangen war. Anfangs war die Veranstaltung in der Wohnung der Familie Lehnert in der Beseler Str. 10 geplant, tatsächlich traf sich die Gruppe aber in der Wohnung der Familie Engler. Anna Englers drei Kinder waren damals zwischen 8 und 16 Jahren alt.26

Frieda und Paul Engler, ca. 1933

Foto: Quelle: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Einladung zum „Königreichsfreudenfest“ der Kinder, 1935

Foto: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; Best. 461 Nr. 7496 Bd. 1

Verkleidete Kinder für das Kinder-Theaterstück „Daniel…“, 1935 (rechts Frieda Engler)

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Alle 15 Kinder mussten miterleben, wie die Gestapo ihr Kinderfest stürmte und die Mütter vor Ort vernahm. Dabei wurde festgestellt, dass „die gleiche Veranstaltung bereits am 14.IV.35 und 15.IV.35 stattgefunden“ habe. „Die Theatervorführung betitelt sich: ‚Daniel, Vergangenheit und Gegenwart.‘ Es war ein provisorischer Vorführungsraum eingerichtet, die entsprechenden Gewänder und sonstige Utensilien lagen bereit. […] auch hatten die Anwesenden keinerlei Flugschriften, einschlägige Literatur oder die Bibel bei sich. Die Versammlung wurde verboten und aufgelöst.“ 27 Allerdings beschlagnahmte man die handgeschriebene Einladung aus 1935 und das Manuskript einer Kinder-Theatervorführung vom Vorjahr, die Anna Engler und Mathilde Lehnert gemeinsam in der Wohnung von Mathilde Lehnert ausgerichtet hatten.28 Gegen die Erwachsenen erging Strafanzeige; die Namen der Kinder notierten die Beamten nicht – sie gingen davon aus, dass es sich um die Kinder der anwesenden Erwachsenen handelte. Diese wurden für den 24./25. April 1935 zur Vernehmung vorgeladen.29 Am 25 April nach der „Grundidee der Veranstaltung“ befragt, gab Anna Engler an: Die Kinder spielten vor, wie Daniel in der Löwengrube von Gott bewahrt wurde. Als aktuelle Anwendung zeigten die Kinder, „wie Gott seine getreuen Zeugen (die Zeugen Jehovas) schützt, trotzdem sie verfolgt werden.“ Anna Engler erklärte klar, dass sie in dieser Kinderveranstaltung auf keinen Fall einen Verstoß gegen das „Bibelforscherverbot“ sah, sondern „ich bin der Meinung, dass man seinen Kindern auch einmal eine Freude bereiten darf.“30

Unumwunden gab sie in dieser Vernehmung auch zu, dass sich die Glaubensangehörigen weiterhin zu Gottesdiensten mit gemeinsamen Gebeten, Bibel- und „Wachtturm“-Lesungen und -besprechungen trafen, und zwar zweimal wöchentlich zu „Hausversammlungen“ meist bei den Familien Engler, Lehnert oder Enders, weil die Wohnungen der anderen Teilnehmer zu klein seien. Die illegalen „Wachtturm“-Ausgaben erhielt Mathilde Lehnert von ihrer Schwester aus den USA. Anna Engler erklärte mutig, dass sie „das göttliche Gesetz über das menschliche Verbot stelle“.31

Am 17. Juni 1935 vermeldete die Staatspolizeistelle Frankfurt, dass vier der Vernommenen wegen ihrer Missionsfahrt nach Mannheim bereits vom Sondergericht Darmstadt verurteilt worden waren, darunter auch Anna Engler. Gegen sieben weitere schwebe ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Mannheim.32 Am 22. September 1935 wurde Anklage gegen Anna Engler und 12 Mitbeschuldigte erhoben, die gegen „die Auflösung und Verbot der Internationalen Bibelforscher zuwidergehandelt“ hatten. Trotz der Ausführungen der Beklagten, es habe sich nur um ein Kinderfest gehandelt, konnte nach Auffassung der Anklage „kein Zweifel daran bestehen, dass sie in derartigen Zusammenkünften die verbotene Tätigkeit der Bibelforscher weiterhin ausübten“.33

Anna Engler und Mathilde Lehnert reichten am 31. Oktober 1935 eine Erklärung an das Sondergericht Frankfurt, um ihre bereits vor dem Sondergericht Darmstadt abgegebene Erklärung zu ergänzen. Sie „betonen ausdrücklich, dass nicht die Druckschriften der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung die Grundlage unserer Glaubensüberzeugung bilden, sondern die Bibel selbst, welche wir als das Wort Gottes anerkennen. Die Druckschriften der genannten Vereinigung sind lediglich Hilfsmittel.“ Durch den Missionsdienst „erfüllen [wir] […] einen göttlichen Auftrag, der uns nicht von Menschen gegeben worden ist, daher auch nicht von Menschen verboten werden kann“. Sie hätten bereits seit etwa 6 Monaten keine biblischen Schriften mehr bezogen und niemanden zur Teilnahme an religiösen Zusammenkünften gezwungen. Über das Kinderfest schrieben sie: „Unser ‚Königreichsfreudenfest‘ sollte unseren Kindern Gelegenheit geben, ihren Eltern und Freunden zu zeigen, was sie aus dem Wort Gottes gelernt hatten.“ Ihre Verweigerung des „Deutschen Grußes“ und die Wahlenthaltung begründeten sie damit, dass Heil und Rettung ausschließlich von Gott und Christus kommen, denen sie als Führern die Treue gelobt hätten. Ihre Ablehnung der Wehrpflicht und des Kriegsdienstes beruhe auf dem biblischen Grundsatz der Heiligkeit des Lebens – immerhin selbst der Gesetzgeber stelle den Versuch oder die Vorbereitung zur Schädigung oder Tötung eines Menschen unter schwere Strafe.34

Frieda Engler, ca. 1940

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Hans Engler, ca. 1940

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Am 11. März 1936 fällte das Sondergericht das Urteil gegen Anna Engler und sechs Mitangeklagte.35 Alle wurden für schuldig befunden, gegen die Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 verstoßen zu haben.36 Anna Engler wurde zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Ihr „Vergehen“: das Veranstalten des Kinderfestes am 14., 15. und 17. April 1935. Sie hatte „das Fest mit vorbereitet, das Theaterstück und die Lieder mit den Kindern eingeübt und Proben abgehalten“. Auch für andere Gottesdienste, bei denen aus der Bibel und dem „Wachtturm“ vorgelesen worden sei, habe sie ihre Wohnung noch nach ihrer Verurteilung durch das Sondergericht Darmstadt zur Verfügung gestellt, obgleich ihr Ehemann schon einige Zeit Zusammenkünfte in der gemeinsamen Wohnung verboten habe. Auch die Verweigerung des deutschen Grußes, ihre Wahlenthaltung und die Ablehnung des Kriegsdienstes gehörten zur Urteilsbegründung – wenngleich das Gericht feststellte, dass sie keine Staatsfeinde oder „Gegner des heutigen Staates“ seien und das göttliche Gesetz nur vorgehe, wenn ein Widerspruch zum Gesetz des Staates bestehe. Anna Engler wurde gemeinsam mit Mathilde Lehnert als „die geistigen Führer der Bibelforscher in der Frankfurter Gegend“ bezeichnet.37

Anna wurde noch im Gerichtssaal verhaftet38, und noch am selben Tag ging die Mitteilung an das Polizeigefängnis Frankfurt Klapperfeldstraße, dass Anna Engler vom Sondergericht zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt worden sei und in das Strafgefängnis nach Preungesheim überführt werden solle.39 Zeitgleich folgte die Rechnungsstellung für den Transport über 50 Reichspfennige.40 Vom 10. März bis 10. Juli 193641 (alternativ: 10. 4. bis 10. 7. 193642 – falls das zutrifft, erhielt sie 1 Monat Strafaufschub) verbüßte sie ihre Strafhaft im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim. Am 19. April 1950 hob das Landgericht Frankfurt das Urteil auf.43

Auch diese Haft konnte Anna Englers Überzeugung nicht brechen. Sie gehorchte weiter ihrem Gewissen und traf sich nach ihrer zweiten Haftentlassung erneut mit anderen Glaubensangehörigen – bis man sie am Abend des 24. März 1937 während der Feier des Abendmahles zum dritten Mal verhaftete; den Besuch der Feier lastete man ihr nun fast schon gewohnheitsmäßig als „illegale Betätigung für die IBV“ an.44 In der Folge wurde beim Sondergericht Frankfurt am 8. April 1937 Anklage gegen Anna Engler et al. erhoben. Die Verhandlung am 10. Mai endete für Anna Engler mit der Verurteilung zu weiteren 15 Monaten Gefängnis (diesmal ohne Anrechnung der U-Haft).45 Die verbüßte sie bis 9. Februar 1938 im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim, anschließend bis 10. Juli 1938 in Darmstadt46 – gleich gefolgt von der Schutzhaft, verfügt schon am 1. Juli 1938 mit der Begründung: „Sie gefährdet nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem sie noch unbeeindruckt durch die verbüsste Strafhaft von 1 Jahr 3 Mon. weiter an der Irrlehre der IBV festhält und somit zu der Befürchtung Anlass gibt, sie werde sich bei Freilassung wieder für die illeg. IBV betätigen.“ 47 Im Polizeigefängnis Klapperfeld wartete sie auf den Transport nach Lichtenburg, wo sie Mitte Juli oder am 1. August 1938 eintraf.48

Schon kurz nach ihrer Ankunft im KZ Lichtenburg schrieb Anna (Häftlingsnummer 918/445) einen Brief an ihre Familie: Sie sei gut angekommen, bittet um einige persönliche Dinge und teilt dann kurz mit: „Zur Zeit ist hier Schreibverbot, seid aber ganz unbesorgt, es geht mir gut.“49

Im KZ Lichtenburg waren zu jener Zeit sehr viele Zeuginnen Jehovas inhaftiert.50 Und auch hier stand ihre Überzeugung auf dem Prüfstand. Paul erinnert sich an das, was seine Mutter später erzählte: „Als einmal allen Insassen des Lagers befohlen wurde, sich im Hof zu versammeln, um eine Rede (wohl von Hitler) zu hören, weigerten sich die Bibelforscher und wurden dann von der SS mit Wasserschläuchen in den Hof getrieben.“ Anna Engler und weitere Glaubensangehörige folgten ihrem Gewissen und gingen zwar mit in den Hof, beteiligten sich dort aber nicht an Handlungen zu Ehren Hitlers.51

Anna Engler musste im Haushalt eines führenden SS-Mannes arbeiten. Der verfasste für Anna eine von der Standard-Lossagungserklärung abweichende Version, die sie ohne Gewissensqualen unterschreiben konnte:52 „Da mir keine Schriften mehr zur Verfügung standen und die I.B.V. in Deutschland aufgelöst war, konnte ich mit guten Gewissen unterschreiben, mich nicht mehr in ihr zu betätigen.“53 Ihrem Glauben hat sie dadurch nicht abgeschworen.54 Nach der Unterschrift kam sie am 2. März 1939 frei und musste sich von da an sehr häufig auf dem Polizeirevier melden.55

Nach dem Krieg kehrten die überlebenden Zeugen Jehovas nach Frankfurt zurück, und die Gemeinde wurde reorganisiert. Anna Engler und ihr Mann brachten sich aktiv in die Frankfurter Gemeindearbeit ein. Bis 1948 erlebte sie, wie die Religionsgemeinschaft in der Stadt auf fünf Gemeinden anwuchs.56

Verfolgtenausweis Anna Engler

Foto: Jehovas Zeugen, Archiv Zentraleuropa

Am 28. September 1948 stellte Anna Engler einen Wiedergutmachungsantrag für insgesamt 2 Jahre und 4 Monate Haft, aus denen sie wegen der schweren Unterernährung Zahnschäden davongetragen hatte. Unter der haftbedingten Abwesenheit der Mutter hatten auch die Kinder schwer gelitten: „Durch meine Abwesenheit haben Haushalt und Familie beträchtlichen Schaden gelitten […] Der Vater musste sich Haushalt und 3 minderjährigen Kindern widmen, worunter sein berufliches Fortkommen litt. Aus diesem Grunde konnten auch keine Anschaffungen gemacht werden.“ 57 Frieda erinnert sich: „Mit meinem Vater machte ich alle Hausarbeiten neben dem Schulbesuch. […] In dieser Zeit haben wir unsere geliebte Mutter sehr vermißt und sicher auch auf manches verzichten müssen. Aber unter der mutigen Handlungsweise meiner Mutter haben wir Kinder niemals gelitten, da wir überzeugt waren, dass es ein Vorrecht ist, für den Namen Jehovas Schmach zu tragen.“ Das hatte ihr ihr Sohn Hans zu ihrer großen Freude sogar ins Gefängnis geschrieben – die Glaubensäußerung des kleinen Jungen war der Zensur entgangen.58

Das Landgericht hob das letzte der drei Urteile, das vom 10.05.1937, erst am 30. März 1950 auf.59 Am 31. Juli 1950 bescheinigte ihr ein Amtsarzt: Die „nervösen und Gelenkleiden sind durch die Verfolgung bedingt. Die dadurch verursachte Erwerbsminderung beträgt 40 %.“60 Schließlich sprach man ihr einen verfolgungsbedingten Gesundheitsschaden von 30 % zu.61

1951 wurde Anna Engler schwer krank – kurz bevor ihr Sohn Paul zu einer Missionarschulung in die USA aufbrach. Am 25. August 1952 verstarb Anna Engler. Martin Bertram, ebenfalls langjähriger KZ-Häftling, fand bei ihrer Beisetzung würdige Worte für diese mutige Frau.62 Anna Englers Vorbild hat nicht nur ihre Kinder und Enkel geprägt – auch in ganz Frankfurt und darüber hinaus ist ihr außergewöhnlicher Mut bekannt geworden.


1 Vgl. Vernehmungsprotokoll Anna Engler, 25.04.1935 (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden - HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

2 Vgl. Mail von Paul Engler an Thomas Kraus (Enkel von Anna Engler), 14.10.2007.

3 Vgl. ebd.; eidesstattliche Erklärung von Anna Engler, 27.02.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

4 Vgl. Lebenslauf (LL) Paul Engler, 20.05.2007 (UaP).

5 Vgl. eidesstattliche Erklärung Engler (Anm. 3).

6 Vgl. Lebenslauf Anna Engler, 09.10.1946 (UaP).

7 Vgl. Kirchenaustrittsbescheinigungen Albert und Anna Engler, 13.01.1919 bzw. 26.11.1919; cf. Adressbuch der Stadt Frankfurt 1920, 119 (https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/periodika/periodical/titleinfo/8711846 [letzter Zugriff: 23.11.2022]).

8 Vgl. EB Frieda Kraus geb. Engler, 17.02.1999 (UaP).

9 Vgl. Mail Paul Engler 14.10.2007 (Anm. 2).

10 EB Kraus 17.02.1999 (Anm. 8).

11 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6); LL P. Engler 20.05.2007 (Anm. 4).

12 EB Kraus 17.02.1999 (Anm. 8).

13 Gestapo-Karteikarte Anna Engler, angelegt 18.01.1934 (HHStAW, W Gestapokarteikarte Ffm).

14 EB Kraus 17.02.1999 (Anm. 8).

15 Vgl. Mail Paul Engler 14.10.2007 (Anm. 2).

16 Vgl. Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974, 131.

17 Vgl. LL P. Engler 20.05.2007 (Anm. 4).

18 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6; Schreibweise originalgetreu).

19 Vgl. Befragung von Paul Engler durch Erika Krämer, 30.06.2003 (Verschriftung UaP).

20 Vgl. Brief von Frieda Kraus an Erika Krämer, 13.09.1999.

21 Vgl. Haftbescheinigung Gefängnis Mannheim, 10.08.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

22 Vgl. Haftbrief von Anna Engler, 24.01.1935 (UaP).

23 Vgl. Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 (Anm. 1), 3.

24 Vgl. Strafregisterauszug Anna Engler, 04.10.1935 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1); Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 (Anm. 1). Zur Adresse cf. Aktennotiz/Brief der Staatspolizeistelle Frankfurt an das Gestapa, 18.04.1935, 2 (ebd.).

25 Vgl. Erlass der Staatspolizeistelle in Frankfurt, 23.03.1935, mit Bezug auf den Gestapa-Erlass vom 20.03.1935 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

26 Vgl. Aktennotiz/Brief Stapo Frankfurt 18.04.1935 (Anm. 24), hier auch: „Herzliche Einladung zu Königreichsfreuden“ (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1, Bl. 6); Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 (Anm. 1), 3.

27 Vgl. Aktennotiz/Brief Stapo Frankfurt 18.04.1935 (Anm. 24).

28 Vgl. „Herzliche Einladung […]“ (Anm. 26); Manuskript „Der rechte Weg“, Kinder-Theaterstück zum Bibelbuch Ruth (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1); Annas Tochter Frieda spielte gemäß diesem Manuskript die Rolle der Orpa. – Frieda Kraus (EB Kraus 17.02.1999 [Anm. 8]) datiert irrtümlich das Stück „Der rechte Weg“ auf 1935 (1934 bestätigt in: Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 [Anm. 1]) und „Daniel, Vergangenheit und Gegenwart“ auf 1936 (1935 bestätigt in: ebd.; Aktennotiz/Brief Stapo Frankfurt 18.04.1935 [Anm. 24]). Das Kinderfest 1935 hatten sich die Kinder gewünscht, weil ihnen das Fest mit Theatervorführung 1934 so viel Spaß gemacht hatte (Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 [Anm. 1]).

29 Vgl. Aktennotiz/Brief Stapo Frankfurt 18.04.1935 (Anm. 24).

30 Vernehmungsprotokoll Engler 25.04.1935 (Anm. 1), 4.

31 Ebd.

32 Meldung der Staatspolizeistelle Frankfurt, 17.06.1935 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

33 Vgl. Anklageschrift Sondergericht Frankfurt, 22.09.1935 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 2).

34 Erklärung von Anna Engler und Mathilde Lehnert, 31.10.1935 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

35 Vgl. Protokoll der öffentlichen Sitzung des Sondergerichts Frankfurt, Strafsache gegen Anna Engler et al., 11.03.1936 (ebd.).

36 Diese Verordnung enthielt Beschränkungen persönlicher Freiheiten wie des Versammlungsrechts.

37 Vgl. Sitzungsprotokoll 11.03.1936 (Anm. 35).

38 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6).

39 Vgl. Brief des Oberstaatsanwalts an das Polizeigefängnis Frankfurt, 11.03.1936 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

40 Vgl. Forderungsnachweis der staatlichen Polizeiverwaltung Frankfurt, 11.03.1936 (ebd.).

41 Vgl. Bescheinigung des Frauengefängnisses Preungesheim, 27.02.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

42 Vgl. Brief von Anna Engler an die Staatsanwaltschaft Frankfurt, 27.02.1950 (beglaubigte Abschrift; HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

43 Vgl. Aufhebungsbeschluss des Landgerichts Frankfurt, 19.04.1950 (HHStAW, Abt. 461, Nr. 7496, Bd. 1).

44 Vgl. Brief von Paul Engler an Günter und Erika Krämer, 24.09.2005 (UaP); Gestapo-Karteikarte (Anm. 13).

45 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6); Gestapo-Karteikarte (Anm. 13).

46 Vgl. Bescheinigung des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Frankfurt, 21.04.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275); Bescheinigung Gefängnis Preungesheim 27.02.1950 (Anm. 41).

47 Schutzhaftbefehl gegen Anna Engler, 01.07.1938 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

48 Vgl. eidesstattliche Erklärung von Anna Engler, 28.07.1950, wo sie als Einlieferungstag den 01.08.1938 nennt. Im Antrag auf Wiedergutmachung ihres Schadens an Freiheit vom 13.12.1949 datiert sie ihre Einlieferung in Lichtenburg auf den 11.07.1938 (beides HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

49 Haftbrief von Anna Engler, Lichtenburg 08.08.1938 (JZArchZE).

50 Am 17. April 1939 waren 387 von insgesamt 1.065 Gefangenen Zeuginnen Jehovas (Hans Hesse/Jürgen Harder, „… und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste…“: Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, Essen 2001, 95).

51 Brief von Paul Engler an Günter und Erika Krämer, 05.11.2005 (UaP).

52 Ab Ende Dezember 1938 wurde der Text der Lossagungserklärung vereinheitlich und beinhaltete dann durchgängig die Abschwörung und den Verrat an den Bibelforschern. Vgl. Hesse/Harder, „Und wenn ich lebenslang […]“ (Anm. 50), 99.

53 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6).

54 Vgl. Brief Paul Engler 05.11.2005 (Anm. 51).

55 Vgl. LL A. Engler 09.10.1946 (Anm. 6).

56 Vgl. Johannes Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main, in: Kirchliche Zeitgeschichte 16/2 (2003), Göttingen 2003/2004, 461.

57 Vgl. Antrag auf Gewährung von Beilhilfe zur Abwehrung eines Notstandes von Anna Engler, 29.09.1948 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

58 Vgl. EB Kraus 17.02.1999 (Anm. 8).

59 Vgl. Beschluss des Landgerichts Frankfurt, 30.03.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

60 Vgl. ärztliche Bescheinigung von Stadtarzt Dr. Greis, 31.07.1950 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

61 Vgl. amtsärztliches Obergutachten, Wiesbaden, 13.08.1953 (HHStAW, Abt. 518, Nr. 275).

62 Vgl. Brief Paul Engler 05.11.2005 (Anm. 51); Mail Paul Engler 14.10.2007 (Anm. 2). Paul Engler wurde später Missionar in Thailand, wo er bis zu seinem Tod in der Landesleitung der Glaubensgemeinschaft aktiv war (cf. Frankfurter Rundschau, 08.12.1964 [UaP]).